Dass der Mönch Martinus mal in einem Gänsestall saß, kann nicht ausgeschlossen werden. Dass er sich dort versteckte, um nicht Bischof von Tours zu werden und dass er von den schnatternden Gänsen verraten wurde, ist hingegen sehr unwahrscheinlich. Sicher ist, dass die Martinsgans und der Brauch, sie zum Martinstag zu verspeisen, nichts mit der Legende aus dem Gänsestall zu tun hat.
Eine Grundlage für die alten Bräuche zum Martinstag war, dass mangels Vorratshaltung nicht viele Tiere über den Winter gebracht werden konnten. Überzählige Tiere wurden deshalb entweder zum Begleichen der Pacht an den Grundherren verwendet oder rechtzeitig vor Beginn des Winterfastens geschlachtet und verspeist. Die letzte Gelegenheit dazu bestand in der Nacht vor dem 12. November, denn dann begann die vierzigtägige Fastenzeit. Fleisch und Fett waren bis zum Dreikönigstag im Januar verboten.
Fett gewann man zu diesen Zeiten, indem es aus dem Fleisch der Schlachttiere ‚ausgelassen‘ wurde. Dabei wurde das zerkleinerte Fleisch erhitzt, um das heraustropfende Fett aufzufangen. Unter den Schlachttieren eignen sich Schweine und Gänse besonders zur Gewinnung von ‚Schmalz‘. Neben dem Gänsebraten zum Martinsfest finden sich deshalb vor allem in Skandinavien und Großbritannien auch typische Schweinefleischgerichte zum Martinstag – Martinsgänse hingegen sind dort unbekannt.
Und weil das gewonnene Fett in der Fastenzeit ranzig geworden wäre, musste es zuvor verbraucht werden. So wurde in siedendem Fett Hefegebäck ausgebacken, es ist heute noch als ‚Mutzen‘ oder ‚Püfferkes‘ bekannt. Dieses süße Gebäck erhielten die Kinder, die an den Haustüren sangen, um Holz für das große Martinsfeuer zu sammeln. Den Gänsebraten selbst gab es dann zur nächtlichen Feier in der Runde am Martinsfeuer. Dieses Martinsfest war nicht nur eine Zeitmarke im Kalender, natürlich freuten sich die Menschen auf den jungen Wein, das üppige Mahl und die ‚Martinsgans‘ – so erhielt sie ihren Namen.
Die Geschichte vom Gänsestall kommt nicht mal in der ‚Vita Sancti Martini‘ vor, also der schon sehr phantasievoll ausgeschmückten Heiligengeschichte von Martins Mönchsbruder Sulpicius Severus. So schön es wäre, wenn die Gänsestall-Legende stimmte, sie ist nicht wahr, sondern wurde irgendwann einfach hinzugedichtet.